Rede zum Gedenktag des Holodomor

Kerzen im Gedenken an die Opfer des Holodomor
Am 23. November 2024 sprach ich auf der Gedenkveranstaltung zum Holodomor, die von der Sunflower Society Leipzig mit Unterstützung des Freundeskreises Ukraine Leipzig organisiert wurde. Ich danke allen, die dabei waren und natürlich den Organisatoren für ihren Einsatz. Meine Kernbotschaft ist: Die Freiheit und Souveränität der Ukraine zu sichern muss ein Kernanliegen Europas sein. Denn das europäische Projekt müssen wir vor allem als Projekt der Sicherung und Förderung von Freiheit und Frieden in Europa begreifen. Wenn Europa aus Zögerlichkeit daran scheitert, der Ukraine eine Zukunft als freies Land in einem freien Europa zu schaffen, dann scheitert die Idee Europa:
„Erst vor zwei Jahren – am 30. November 2022 – wurde der Holodomor von der Bundesrepublik offiziell als Völkermord anerkannt. In der Resolution des Bundestags heißt es, er sei „Teil unserer gemeinsamen Geschichte als Europäerinnen und Europäer“. Das Gedenken an den Holodomor wurde damit – wenngleich spät –Teil gemeinsamer Erinnerungskultur.
Doch Erinnerungskultur bleibt pure Eitelkeit, solange daraus keine konkrete und gelebte Verantwortung wird. In Deutschland ist Erinnern – infolge unserer Vergangenheit – oft mit besonderer Verantwortung verbunden. Wir tragen Verantwortung wegen des Völkermords, der von Deutschen an Jüdinnen und Juden verübt wurde. Wir tragen Verantwortung wegen Ausgrenzung und Mord an Minderheiten, begangen von unseren Vorfahren. Wir tragen Verantwortung auch wegen der Gräueltaten, die in ganz Europa und insbesondere auch auf dem Gebiet der Ukraine begangen wurden.
Die Bundesrepublik entstand aus den Katastrophen des 20. Jahrhunderts im Bewusstsein historischer Verantwortung. Zu ihrem – also zu unserem – Selbstverständnis muss die Verantwortung dafür gehören, dass Vergleichbares nie wieder auf europäischem Boden zugelassen werde. Es kann uns daher gerade hier in Deutschland nicht gleichgültig lassen, wenn wieder Grenzen mit Gewalt verschoben werden, wenn ein souveränes Land überfallen wird, wenn Kinder verschleppt werden, wenn unschuldige Menschen dem Größenwahn eines Diktators geopfert werden.
Zu den zentralen Lehren und den größten politischen Erfolgen der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg gehört die Schaffung eines geeinten Europas als eines Raums des Friedens und der Freiheit. Das geeinte Europa ist das Versprechen, dass kein Land mehr die Souveränität und Selbstbestimmung eines anderen Landes in Frage stellen dürfe. Nie wieder dürfe einem Menschen, einer Gruppe von Menschen, einem Volk oder einer Nation das Recht abgesprochen werden, die eigene Identität frei zu entwickeln und zu leben. Verbrechen wie die, denen Menschen in der Ukraine in den 30er und 40er Jahren zum Opfer fielen, dürfen sich niemals wiederholen. Das war das vornehmste Ziel der Bildung eines geeinten Europas. Und dieses Ziel schien zu Beginn der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts zum Greifen nahe, wenn nicht sogar erreicht.
Europa ist, so erinnerte uns Hans-Dietrich Genscher, das Projekt einer stabilen Friedensordnung, die uns Freiheit und Selbstbestimmung garantiert. Nicht isoliert von anderen, sondern nur eingebunden in die Gemeinschaft eines auf die Freiheit verpflichteten und an gemeinsamen Werten orientierten Europas, können wir uns unserer Freiheit sicher sein. Das wissen vor allem auch die pro-europäischen Kräfte in Osteuropa, speziell in der Ukraine. Um es in den Worten Genschers zu sagen: “Europa ist unsere Zukunft – eine andere Zukunft haben wir nicht.”
Viel zu spät merkten viele Menschen, dass diese Friedensordnung in Gefahr ist. Dabei liegt es seit über zehn Jahren für alle, die nur hinschauen wollen, offen zu Tage. Ausgerechnet in der Ukraine, dem Ort, an dem Russland unter Stalin ein Volk auszulöschen versuchte, versucht nun Putin, die Souveränität eines Volkes zu vernichten, ihm seine Identität zu rauben und sein Freiheitsstreben zu unterdrücken.
Es ist die Ukraine, die heute die europäischen Ideale von Freiheit und Selbstbestimmung gegen einen brutalen Gegner verteidigt. Während einige derer, die in Europa Führungsverantwortung zeigen sollten, durch Zaudern und Zögern die Existenz der Ukraine und die Freiheit Europas aufs Spiel setzen, sind es ukrainische Soldatinnen und Soldaten, die an der Front auch für unsere Freiheit kämpfen und ihr Leben einsetzen.
Sollte es Russland gelingen, der Ukraine die Freiheit zu nehmen, dann fällt Europa unweigerlich zurück in die Zeiten, zu deren Überwindung es begründet wurde. Dann zerbricht die europäische Friedensordnung. Dann hat Europa bei seiner wichtigsten Aufgabe – der Sicherung von Freiheit und Selbstbestimmung – aus Mangel an Entschlusskraft und politischem Willen versagt. Wenn die Ukraine diesen Krieg verliert, dann verliert Europa das ideelle Fundament, auf dem es errichtet ist.
Wir werden uns nicht wie in der Vergangenheit auf äußere Kräfte verlassen können, um der Freiheit in Europa zum Durchbruch zu verhelfen. Die Zukunft Europas entscheidet sich daher heute an der Frage, ob wir Europäerinnen und Europäer selbst die Kraft, den Zusammenhalt und die Entschlossenheit aufbringen werden, das zu verteidigen, was im Herzen der Idee Europas steht: Freiheit und das Recht auf Selbstbestimmung. Wir – und damit meine ich vor allem uns Deutsche – müssen endlich den Mut und die Entschlusskraft aufbringen, unserer Verantwortung gegenüber unseren ukrainischen Freunden gerecht zu werden. Der heutige Tag – im Gedenken an das grausame Verbrechen des Holodomor – erinnert uns an unsere Verantwortung für eine freie Ukraine in einem freien Europa.
Slava Ukraini!”