Liberalismus und „Islamkritik” – ein paar unschuldige Anmerkungen

Cordoba gilt als Inbegriff einer Zeit, als die drei abrahamitischen Religionen koexistierten. Von dort ging erheblicher intellektueller Einfluss auf das christliche Mittelalter aus. Foto: Alexander Gunkel
Als Liberaler hat man es schwer. Man sitzt nicht nur immer zwischen den Stühlen, die Marion Gräfin Dönhoff beschrieb. Man sucht auch stets nach einer politischen Heimat, in der man sich einigermaßen wohl und Zuhause fühlen kann. Letzteres liegt nicht nur daran, dass Liberale eben Individualisten sind, die sich schwer zu einem harmonischen Ganzen formen lassen. Es liegt mitunter auch daran, dass einigen Parteifreunden der Platz zwischen den Stühlen mit der Zeit unbequem wird. Sie setzen sich dann auf einen der vorhanden Stühle. Die einen wählen den linken Stuhl, weil sie sich von der Kälte wirtschaftlicher Freiheit verunsichert oder von denen, die auf dem rechten Stuhl Platz genommen haben, bedroht fühlen und sich mehr Abstand wünschen. Mitunter nehmen Menschen aber auch auf dem rechten Stuhl Platz, weil sie in einer Welt zunehmender gesellschaftlicher und kultureller Freiheit den Verlust von Orientierung fürchten. Und genau hier beginnt mal wieder das Problem.
Es gibt keine einfache Definition des Liberalismus und ein großes Manko des parteipolitisch organisierten Liberalismus ist, dass alle von „liberal” reden und sich so nennen, aber kaum jemand mal erläutert, was es denn heißt, „liberal” zu sein. Dabei sollte es ja zumindest Einigkeit darüber geben, dass Liberalismus sich auf Freiheit bezieht und dass er in seinen Grundzügen individualistisch ist – es geht um die Freiheit des Einzelnen, nicht der Gruppe oder des Volkes. Liberal sein heißt in groben Umrissen, die individuelle Freiheit aller Menschen unabhängig von ihrer Herkunft, Hautfarbe, Religion oder Abstammung zu schützen und zu fördern. Liberalismus ist daher unvereinbar mit Rassismus, Antisemitismus und Intoleranz. Er ist insbesondere unvereinbar mit dem antimuslimischen Rassismus, der sich in den öffentlichen Äußerungen einiger Leute niederschlägt, die sich selbst als „Liberale” titulieren.
Viele millionen Menschen erleiden auf dieser Erde Unterdrückung, Erniedrigung und Unfreiheit aufgrund ihrer Abstammung oder ihres religiösen Bekenntnisses. Darunter sind auch viele Menschen in Ländern, in denen Spielarten und Auslegungen des Islam zur Unterdrückung von Menschen dienen. In vielen dieser Länder trifft es insbesondere Frauen, Mädchen, homosexuelle und queere Menschen sowie alle, die ihre Religion ablegen oder diese auf eigene Art und Weise leben möchten. Es trifft Ungläubige, aber natürlich auch Muslime, die im namen des Islam unterdrückt und um ihre Freiheit gebracht werden. Als Liberale ist es unsere Aufgabe, für die Freiheit dieser Menschen einzutreten. Wer sie stattdessen allesamt über einen Kamm scheren und sich um ihre Freiheit nicht sorgen möchte, weil sie ja „aus einer anderen Kultur” seien, tritt seinerseits die Grundwerte des Liberalismus – Freiheit und Individualismus – mit Füßen.
Das gilt auch für die anmaßenden Kommentierungen all derer, die sich nie die Mühe einer auch nur oberflächlichen Beschäftigung mit den Lebensverhältnissen in Ländern des Nahen und Mittleren Ostens machten, dafür aber umso leichtfertiger mit ihren Urteilen über die religiösen Bekenntnisse der Menschen dort um sich werfen. Menschen in Syrien, Libanon, dem Irak, Iran oder Afghanistan sind in aller Regel genau wie wir hier in Europa: Individuen mit ihren je eigenen Vorstellungen vom Leben, religiösen Einsichten, Lebenszielen und ethischen Maßstäben. Wer Schicksale von Menschen aus den Nachrichten aufgreift, ohne auch nur den Hauch einer tieferen Kenntnis ihrer Beweggründe und Lebenseinstellung zu haben, um sie für den eigenen Kampf gegen den Islam, arabische Kultur oder was auch immer zu missbrauchen, beweist damit lediglich seine eigene Borniertheit und Illiberalität. Für Liberale verbietet sich das, denn sie stellen per definitionem die Freiheit und Individualität der Menschen über die Zugehörigkeit zu einer wie auch immer definierten Gruppe.
Zur Rechtfertigung von Liberalismus und antimuslimischem Rassismus wird dann auch noch die Aufklärung bemüht, die ja religionskritisch gewesen sei. Nun ja, Liberalismus mag historisch in der Aufklärung verwurzelt sein (es ist das Privileg von Menschen, die sich nie intensiv mit Geistesgeschichte befasst haben, dass ihnen solche Aussagen leicht über die Lippen gehen). Aber die geistesgeschichtliche Entwicklung, die mit den Bezeichnungen „Aufklärung” und „Liberalismus” verknüpft ist, ist dann doch etwas komplexer, als es unsere Freunde der Anti-Islam-Aufklärung gerne hätten. Oder zählt Kants „Religion in den Grenzen der bloßen Vernunft” schon als Religionskritik im beanspruchten Sinne? Wer sich zumindest an die eigene Schulbildung noch erinnert, erkennt vielleicht, dass Lessings „Nathan der Weise” wohl kaum zu einer Abwertung des Islam gegenüber dem Christentum wird herhalten können. Der Siegeszug von Freiheit und Individualismus verdankt sich der vernünftigen Auseinandersetzung mit Religion, nicht der platten Religionsablehnung unserer Anti-Islam-Prediger.
Und wo wären wir eigentlich heute in Europa ohne die Anregungen, die uns über islamische Gelehrte wie Avicenna und Averroes erreichten? Hätte es die Neuzeit in der Form überhaupt gegeben? Wäre die Aufklärung in Deutschland möglich gewesen ohne schottische, französische, aber auch chinesische Einflüsse (man denke an Christian Wolffs Festrede als Prorektor in Halle 1721 über die praktische Philosophie der Chinesen)? Kultureller und intellektueller Fortschritt ergibt sich oft dort, wo Unterschiedliches aufeinandertrifft. Wo Menschen, die einer Tradition angehören und in ihr gebildet sind, sich als offen erweisen für Einflüsse anderer Traditionen. Immanuel Kant nannte die Einstellung, die dazu erforderlich ist, die „erweiterte Denkungsart” des Kosmopoliten, und erklärte uns, dass dies eine der drei Säulen des Selbstdenkens, also der Aufklärung ist. Wer im Denken frei sein möchte, muss dem Anderen mit Neugier und Offenheit gegenüber stehen. Auch dies wurde so zu einem Grundprinzip des Liberalismus: Statt in Lagerdenken zu verfallen, interessieren sich Liberale für das noch Fremde, weil sie annehmen, dass sie davon hinzulernen können.
„Du möchtest also leugnen, dass es ein Problem gibt?” Das ist dann meist die letzte Verteidigungslinie unserer Islamkritiker. Die Frage ist – als Einwand gedacht – von unglaublicher Einfältigkeit. Als müsste man die Frage als unbegründet zurückweisen, wenn man eine gegebene Antwort als falsch ansieht. Aber als Liberaler macht man es sich ja nicht so einfach: Wir müssen die Ressentiments hinter uns lassen und uns ernsthaft der Frage stellen, statt die Frage zur Verteidigung unserer Vorurteile zu nutzen. Denn natürlich gibt es ernsthafte Probleme, gerade auch in der Folge umfangreicher Migration. Wie könnte es auch anders sein? Und diese Probleme werden natürlich nicht geringer, wenn diese Menschen aus Ländern einwandern, in denen beispielsweise Antisemitismus nicht bekämpft wird, sondern Staatsdoktrin ist. Wenn wir dieses Problem angehen wollen, dann müssen wir aber daran anknüpfen, dass Menschen Individuen und vor allem frei sind. Individualität, Freiheit und Vernunft sind ja die Grundlagen dafür, dass Menschen das Schlechte (bspw. Antisemitismus) auch ablegen können.
Wir tun selbst dabei nichts Schlechtes, wenn wir selbst vorangehen und unsererseits das Schlechte (Rassismus, Antisemitismus und Vorurteile) abzulegen versuchen. Und hier zeigt sich eben, wer wirklich der Aufklärung zuneigt. Denn der Aufklärer – und hier vereinfache ich ohne Hemmung – bekämpft ja zuallererst die eigenen Vorurteile, um selbst frei zu werden. Wer die Vorurteile nur bei anderen sieht, dem geht es nicht um Freiheit und Aufklärung, sondern um Rechthaben und den eigenen Standpunkt. Liberale sind da anders.
Damit haben wir die Frage nach den Herausforderungen und ihren Lösungen nicht beantwortet. Aber immerhin wären wir an dem Punkt, an dem wir über sie sprechen können. Wir müssen darüber sprechen, was wir als Gesellschaft leisten können, was wir von Menschen, die in unserer Gesellschaft leben möchten, erwarten können, wie wir Vorurteile, Ressentiments und Hass bekämpfen, wen wir vielleicht auch nicht bei uns aufnehmen können. Wir werden Antworten darauf finden, wenn es uns ernsthaft um die Herausforderungen und ihre Lösungen geht und wir uns unser Denken nicht von Vorurteilen vernebeln lassen. Dann sitzen wir als aufgeklärtere Menschen wieder zwischen Stühlen: zwischen der naiv romantisierenden Sicht progressiver Kräfte, die einen Ausschluss von vorherein ablehnen, auf der einen und als „liberal” getarnten Reaktionären mit ihrem verklärenden Bild eines christlichen Abendlandes auf der anderen Seite. Beide werden uns angreifen, verachten und für die jeweils andere Seite ausgeben. und dann wissen wir wegen des unbequemen Platzes wieder darum, dass wir eine liberale Position innehaben.